Gitta Axmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Deutschen Sporthochschule und zudem seit vielen Jahren als Fachberaterin für Sportorganisationen und -vereine im In- und Ausland im Breitensport unterwegs. Einer ihrer Schwerpunkte: Sexualisierte Gewalt. Im Interview mit uns berichtet sie u.a. über verschiedene Formen von Gewalt, wieso sich jeder Verein mit der Prävention von Gewalt auseinandersetzen sollten und wie eine Kultur des Hinsehens geschaffen werden kann.
Hallo Gitta, viele Personen tun sich mit dem Thema „Sexualisierte Gewalt“ schwer. Du beschäftigst dich damit ganz bewusst intensiv. Wie kam es dazu?
In den 1990er Jahren war ich als Vorstandsmitglied im Allgemeinen Deutschen Hochschulverband aktiv und dort u.a. für das Ressort „Frauen und Sport“ zuständig. Bereits damals hatten wir Seminare zu „Sexuelle Gewalt und Sport“, die immer sehr interessant und wegweisend waren. Zu dieser Zeit gab es auch den ersten bekannten Fall im Sport, der für einen medialen Aufschrei gesorgt hat, wenn auch nur für kurze Zeit.
Wenig später habe ich dann meine Diplomarbeit geschrieben. Für mich war immer das Thema Aufklärung von Mitgliedern bzw. möglichen Betroffenen wichtig, damit diese wissen: Was ist in Ordnung? Und was nicht? Im Rahmen meiner Diplomarbeit habe ich dann ein Konzept zu der Frage entwickelt: Stellen Sport und Bewegung mit Mädchen eine Möglichkeit zur Prävention sexueller Gewalterfahrungen dar? Ich habe ein Praxiskonzept über 20 Einheiten entwickelt und in mehreren Schulen erfolgreich durchgeführt. Und seitdem hat mich diese Frage nicht mehr losgelassen.
Forschst du auch im universitären Kontext zu diesem Themenfeld?
Ja, unter anderem. An der Deutschen Sporthochschule gibt es immer wieder Forschungsprojekte dazu. Zuletzt habe ich zum Beispiel am Projekt TrainNah mitgewirkt. Ziel des Projekts ist es, durch Befragungen von Trainer:innen sowie Athlet:innen aus dem Nachwuchsleistungsbereich den Umgang mit Nähe und Distanz zu untersuchen und darauf aufbauend Trainer:innen-Schulungen zu entwickeln und diese dann auch umzusetzen.
Durch deine Tätigkeiten hast du sowohl einen wissenschaftlichen Zugang als auch einen zu Führungskräften und der Basis. Wie ist deine Einschätzung: Ist das Risiko in Sportvereinen Gewalt zu erleben größer als in anderen Teilen der Gesellschaft?
Ich glaube, die Antwort auf diese Frage muss man sehr differenziert sehen. In absoluten Zahlen ist dies gut möglich, da der Sport eine der größten Organisationen in Deutschland ist. In Prozentzahlen ist dies nur schwer zu beantworten. In vielen gesellschaftlichen Bereichen liegen keine Zahlen vor bzw. es gibt kaum Studien, zum Beispiel für den Bereich Theater oder der Musik. Nehmen wir das Beispiel Musik: Beim Erlernen eines Instruments nehmen viele Kinder und Jugendliche Einzelunterricht, was ein Risiko mit sich bringt.
Zudem gibt es in allen Bereichen eine nicht zu ermittelnde Dunkelziffer, so dass Vergleiche schwierig sind. Mittlerweile wissen wir jedoch, dass die meisten Gewaltvorfälle im familiären Umfeld geschehen. Zudem wurde lange Zeit angenommen, dass Gewalt im Sport vor allem in geschlossenen Systemen wie Sportinternaten oder Stützpunkten vorkommen. Es hat sich jedoch mehr und mehr gezeigt, dass Vorfälle genauso oder vielleicht sogar häufiger im normalen Vereinssetting geschehen.
Wieso neigen einige Täter:innen dazu, sich einen Sportverein „auszusuchen“?
Hier gibt es verschiedene Gründe. Sport ist natürlich sehr beliebt und in Deutschland von den allermeisten Kindern und Jugendlichen Teil der Biografie. Dabei ist er mit positiven Werten und Attributen wie Fairplay, Charakterbildung, soziale Kontakte, Spaß und Bewegung verbunden- und das regelmäßig, was bedeutet, dass Täter:innen Zeit haben sexualisiere Übergriffe zu planen. Teilweise haben Vereine einen fast schon familiären Charakter. Hinzu kommt die Körperzentriertheit des Sports. Dusch- und Umkleidesituationen gehören genauso dazu, wie gewisse Berührungen, z.B. Hilfestellungen. Für Täter:innen ist es daher relativ leicht, diese Besonderheiten des Sports zu ihren Gunsten zu nutzen.
Gibt es dort Unterschiede im Breiten- und Leistungssport?
Im leistungsorientierten Sport kommen meist noch andere Faktoren „begünstigend“ hinzu. Sportler:innen sind darauf getrimmt, über ihre Grenzen zu gehen, es wird von ihnen Disziplin gefordert und dass sie alles ihrem Traum unterordnen. Ganz oft fallen Sätze wie: „Das gehört dazu, um erfolgreich zu sein“ oder „Du musst über deine Grenzen gehen!“.
Zudem leben Leistungssportler:innen oftmals in geschlossen Systemen und haben kaum Kontakte außerhalb. Dieses Leben wollen sie nicht verlieren. Oftmals ist ihnen auch gar nicht bewusst, dass das Verhalten anderer ihnen gegenüber nicht „normal“. bzw. grenzüberschreitend ist.
Hast du das Gefühl, dass Vereine ein Risikobewusstsein dafür haben?
Ja und nein. Mittlerweile wurde so viel über verschiedene Vorfälle medial berichtet, dass es unmöglich ist, als Verein keine Kenntnis darüber zu haben, dass solche Fälle vorkommen. Auch die Landes- und Fachverbände informieren sie regelmäßig und bieten Schulungen an. Aber es gibt noch eine große Zahl an Vereinen, die sich kaum bis gar nicht mit dem Thema beschäftigen, und zwar aus verschiedenen Gründen.
Was sind das für Gründe?
Ein Problem sind die rein ehrenamtlichen Strukturen. Von Vereinen wird immer mehr erwartet. Sie sollen sich im Bereich der Integration engagieren, im Bereich der Inklusion, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt fördern und so könnte man weitermachen. Gerade kleine Vereine sind oft überfordert mit der Fülle von Aufgaben, die sie erledigen sollen. In der Priorisierung von Themen fällt dann die Prävention sexualisierter Gewalt oft hinten runter. Für viele ist das Thema zu „nah“ bzw. zu schwer und sie behandeln lieber andere wichtige, aber für sie leichtere Themen. Außerdem haben viele Vereine die Angst, dass man denken könnte, bei ihnen gab es einen Vorfall, wenn sie sich nun damit beschäftigen.
Was muss sich ändern?
Wir müssen dahin kommen, dass Maßnahmen zur Prävention von Gewalt genauso normal werden wie TÜV-Abnahmen für Sportgeräte, Brandschutzmaßnahmen oder Erste-Hilfe-Kurse und sie zum Bereich ‚Sicherer Sport‘ gehören. Es muss Vereinen klar werden, dass es ihre Pflicht ist, ihre Mitglieder im Rahmen der Garantenpflicht zu schützen. Was tatsächlich oft ein Augenöffner ist: Den verantwortlichen Personen vor Augen zu führen, dass sie selbst Eltern sind oder jüngere Geschwister oder andere Kinder in ihrer Familie/ in ihrem Umfeld haben und sie zu fragen, welches Vereinsumfeld sie sich für diese wünschen bzw. dass es auch diesen Kindern passieren kann, sexualisierte Gewalt zu erleben. Das gilt es bestmöglich zu verhindern.
Abgesehen vom Schutz der Mitglieder – wieso sollten Vereine mehr Wert auf Präventionsmaßnahmen legen?
Neben den Mitgliedern schützt es auch die Ehrenamtlichen. Zum einen baut es Ängste und Unsicherheiten ab, zum anderen sichert es sie aber auch im Fall eines Vorfalls ab bzw. kann vor falschem Verdacht schützen. Der Trend bei der Strafverfolgung geht mittlerweile dazu, sich nicht nur auf die Täter:innen zu fokussieren, sondern auch das Umfeld zu fragen: Was wusste der Verein? Was hat der Verein für Maßnahmen ergriffen? Zudem können Vereine ein gutes Schutzkonzept als Qualitätsmerkmal sehen, um so mehr Mitglieder zu gewinnen.
Was sind Minimum Anforderungen, die jeder Verein umsetzen sollte?
Als erstes sollte man als Verein anerkennen, dass es verschiedene Formen von Gewalt im Sport gibt und diese auch im eigenen Verein vorkommen können. Außerdem braucht es ein Bewusstsein, dass es den gesamten Verein braucht, um die Mitglieder zu schützen. Es reicht nicht, eine Ansprechperson zu benennen und zu glauben: Die wird es schon richten. Eine Ansprechperson ist auf jeden Fall wichtig, aber es sollten alle geschult bzw. zumindest dafür sensibilisiert sein.
Ebenfalls wünschenswert sind Arbeitsgruppen und dass das Thema regelmäßig im Vorstand thematisiert wird. Außerdem sollten Vereine Leitlinien erarbeiten: Wofür stehen wir? Was sind unsere Werte? Welche Kultur / Atmosphäre wollen wir pflegen? Wie gehen wir mit Nähe und Distanz um? Und darüber direkt deutlich machen, dass z.B. anzügliche / sexistische Sprüche keinen Platz im Verein haben.
Darüber hinaus sollten sie sich über die Risiken im Verein bewusstwerden und präventiv klären: Wie gehen wir mit Einzeltrainings um? Wie mit Umleidesituationen? Um so gar keineMissverständnisse aufkommen zu lassen. Diese Leitfäden selbst zu erarbeiten, ist dabei deutlich aufwändiger, aber auch effizienter, als den Vereinen immer schon fertige vorzusetzen, die vermutlich niemand liest.
Sollte man Kinder und Jugendliche miteinbinden?
Auf jeden Fall! Diese können ihre Bedürfnisse oft sehr gut kommunizieren. Sie wissen zum Beispiel am besten, was eine Ansprechperson mitbringen sollte, damit sie sich an sie wenden. Zudem hat sich gezeigt, dass viele – gerade junge Betroffene sich erst einmal an Freund:innen wenden. Deshalb ist es wichtig, dass sie wissen, dass sie damit nicht alleine zurechtkommen müssen, dass sie nicht Schuld sind und an welche Erwachsene sie sich wenden können.
Was gilt es noch zu beachten?
Der Aufbau eines Präventionskonzepts braucht Zeit und es reicht nicht, das Thema einmal abzuhandeln. Außerdem ist es wichtig, dass eine Ansprechperson nicht alles alleine leisten muss und es vollkommen in Ordnung ist zu sagen: Es überfordert mich, mich mit diesem Fall auseinanderzusetzen oder es übersteigt meine Kompetenz.
Es ist ein bisschen wie mit einem Armbruch eines:r Spieler:in. Ich muss als Trainer:in wissen, dass ich dann den Krankenwagen rufen muss, aber ich muss den Arm nicht selbst operieren. So ist es hier auch: Ich muss wissen, was zu tun ist und an wen ich mich wenden sollte, aber ich muss nicht alleine den Fall aufarbeiten und den:die Betroffene:n psychologisch betreuen. Dafür ist es aber unabdinglich, dass es eine entsprechende Struktur im Verein gibt.
Kann eine hauptamtliche Stelle einen Beitrag dazu leisten, diese Strukturen in einem Verein zu schaffen?
Absolut – allerdings mit der Einschränkung, dass es natürlich Personen – auch im Vorstand – braucht, die sich dem Thema annehmen. Aber wir sehen, wie komplex das Thema ist und durch die geschaffene Hauptberuflichkeit fällt die „Ausrede“ der fehlenden zeitlichen Ressourcen ein Stück weit weg – entweder, weil sie sich dem Thema selbst annimmt oder aber Ressourcen für die Ehrenamtlichen schafft. Nichtsdestotrotz darf dann auch hier nicht der Fehler gemacht werden, dass die Aufgabe dann nur auf die hauptberuflichen Kolleg:innen abgewälzt wird. Wie gesagt: Es ist eine Aufgabe für den gesamten Verein und nur so kann das Thema nachhaltig etabliert werden.
Danke am Gitta Axmann für das Interview!
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